Ein Kommentar von Enrico Liedtke, Co-Vorsitzender und Sprecher des AK Europa in der Bonner SPD
In Krisen offenbart sich die Standfestigkeit der Demokratie. Umso genauer gilt es heute hinzusehen, wie die Mächtigen mit ihren Handlungsvollmachten umgehen. Unter dem Deckmantel der Krise und des Ausnahmezustandes lassen sich leicht Regeln aushebeln, die bis dahin Ausdruck des Schutzes unserer Grundrechte waren. Die umfassende Bevollmächtigung der Exekutive, die Marginalisierung der Parlamente und das Einschränken von Grundfreiheiten: all das sind überaus sensible Vorgänge, die sehr behutsam bedacht werden müssen. Auch wenn schnelles Handeln erforderlich ist, dürfen wir nicht Gefahr laufen, in blinden Aktionismus zu verfallen und voreilig die Grundprinzipien unserer gesellschaftlichen und institutionellen Verfasstheit aufzugeben.
Demokratie kann auch in Krisenzeiten funktionieren
Demokratie ist keine Schönwetterveranstaltung, sondern muss und kann auch in Krisenzeiten ihr Funktionieren unter Beweis stellen – wenn die Demokrat*innen sie denn auch lassen. Ich bin daher froh, dass wir in Deutschland wachsame Parlamentarier*innen haben, die den Regierungen in Bund und Ländern auf die Finger schauen. Auch ohne substanzielles Unterlaufen der grundgesetzlich geregelten Verfahren konnten wir das größte Hilfspakt in der Geschichte der Bundesrepublik verabschieden. Es gibt keinen Grund, warum die parlamentarische Demokratie nicht auch weiterhin in der Lage sein sollte, die Krise zu meistern.
Während ich mit wachsamer Skepsis das politische Handeln in Deutschland beobachte, beunruhigen mich die Entwicklungen in Ungarn und Polen zutiefst. Seit Jahren werden dort von den Rechtspopulisten und Nationalkonservativen der Rechtsstaat zurückgedrängt, fundamentale Prinzipien der Demokratie untergraben und die Gesellschaft einer gezielten Propaganda ausgesetzt.
Viktor Orbán errichtet vor den Augen aller eine Autokratie
In Ungarn errichtet Viktor Orbán vor den Augen aller eine Autokratie; die Freiheit wird massiv beschnitten. Bis heute hat es die christdemokratische EVP nicht geschafft, Orbáns Fidesz auszuschließen und von Seiten der EVP-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist nichts weiter zu hören, als dass man die Situation der Demokratie in allen Mitgliedstaaten beobachten wolle. Ich frage mich, was es noch zu beobachten gibt, wo doch offensichtlich ist, dass sich Ungarn unter der Fidesz-Regierung längst von den Werten der EU verabschiedet hat und keinerlei Berechtigung mehr hätte, überhaupt Mitglied zu werden. Ich frage mich auch, wann man sich seitens der CSU oder der österreichischen ÖVP der jahrelangen Kumpanei mit Orbán öffentlich schämt.
"Es ist zugleich bitter und enttäuschend, dass weder die Kommission noch die Mitgliedstaaten der EU deutliche Worte finden und Maßnahmen einleiten, diesen massiven Verstoß gegen europäisches Recht zu unterbinden oder zu sanktionieren."
Es ist zugleich bitter und enttäuschend, dass weder die Kommission noch die Mitgliedstaaten der EU deutliche Worte finden und Maßnahmen einleiten, diesen massiven Verstoß gegen europäisches Recht zu unterbinden oder zu sanktionieren. Ein Viktor Orbán darf keinen Platz am Tisch der Staats- und Regierungschefs haben und Ungarn darf nicht zur Blaupause für andere werden, die sich anschicken, ihr ganz eigenes Verständnis einer so genannten „illiberalen Demokratie“ Wirklichkeit werden zu lassen. Wie will ein Europa, dass diesem Treiben keinen Einhalt gebietet, Vorbild und Maßstab für andere in der Welt sein? Es ist ja nicht allein der Verstoß gegen demokratische Grundprinzipien, der der EU den Spiegel vorhält. In griechischen Flüchtlingslagern sind immer noch tausende hilfsbedürftige Menschen eingepfercht – und aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden. Das Problem aber bleibt, auch wenn niemand hinsieht.
In Zeiten der Krise braucht es mehr europäische Solidarität
In Krisen zeigt sich auch, wer den Überblick behält, wer nicht erst nur an sich denkt. Der Umgang mit den Flüchtlingen in den griechischen Lagern hat bereits gezeigt, wie es sich mit internationaler Solidarität in den Staaten Europas verhält. Es scheint, als hätten wir aus den letzten Jahren nichts gelernt. Die Finanz- und Euro-Krise sowie deren Folgewirkungen sollten uns vor Augen geführt haben, dass wir in der EU aufeinander angewiesen sind. Und bereits dort hat die Solidarität untereinander versagt. Heute ist die nationale Kleingeisterei zurückgekehrt. Während China in Europa munter Schutzmasken verkauft, schließen wir Grenzen und igeln uns in rein national gedachte Maßnahmen ein. Die europäische Gemeinschaft wird derzeit höchstens symbolisch hochgehalten, während die Kommission auf Grund mangelnder Kompetenzen eher hilflos zusieht. Wie schon in der Euro-Krise sind es wieder die Mitgliedstaaten, die gemeinschaftliche Maßnahmen, die einem europäischen Gesamtinteresse dienen, ausbremsen. Es ist schwer nachvollziehbar, dass sich Konservative und Liberale so genannten Coronabonds verweigern, bei denen niemandem etwas weggenommen wird, aber vielen geholfen werden kann. Während die niederländische Regierung, die seinerzeit auch gegen Eurobonds opponierte, mittlerweile eingesehen hat, dass ein verengter Blick auf nationale Eigeninteressen nicht zielführend ist, haben hierzulande Union und FDP den Begriff der Solidarität nach wie vor nicht verstanden.
Fazit: Ein gemeinsames und starkes Europa ist unverzichtbar
Die zentrale Frage ist noch immer nicht beantwortet, wie viele globalpolitische Herausforderungen über Europa hereinbrechen müssen, bis auch dem Letzten klar geworden ist, dass ein vertieftes gemeinschaftliches Vorgehen im Rahmen der EU dringend notwendig ist. Anstelle des nationalen Egoismus müssen starke, handlungsfähige supranationale Institutionen treten. Das Ausmaß der Corona-Pandemie mit allen damit verbundenen Einschränkungen für das öffentliche Leben und die Wirtschaft sendet hoffentlich das deutliche Signal, dass künftig vieles nicht mehr so bleiben darf wie bisher. Darüber, wie eine Welt nach Corona aussehen könnte und wie wir die Demokratie darin schützen können, sollten wir nachdenken.